Letztes Wochenende bin ich auf Instagram über ein kurzes Reel von Gabor Maté gestolpert. Maté - kanadischer Arzt und Trauma-Forscher, dessen Familie nur knapp dem Holocaust entkam - spricht darin über „Moral Injury“ und vor allem über die Unmenschlichkeit in Gaza. Er benennt das, was so viele von uns fühlen: ein gebrochenes Herz - angesichts dessen, dass wir scheinbar nichts tun können.
Dieser Schmerz ist real. Und er endet nicht an Gaza. Er hallt auch durch andere Räume dieser Welt: im Sudan, im Kongo, bei Frauen in Afghanistan, bei Migrant:innen in den USA. Ohnmacht entmutigt - und sie lähmt. Doch Maté dreht die Perspektive: Dass es Dir wehtut, bedeutet, dass Du ein Herz hast. Und gerade deshalb dürfen wir uns nicht abhalten lassen, für Menschlichkeit einzustehen. Das ist kein Sprint, sagt er sinngemäß - sondern ein Marathon, den wir gemeinsam laufen. Ein Lauf, bei dem wir unser Licht in die Welt tragen. Und bei dem wir nicht aufgeben dürfen.
Darum schreibe ich diesen Text. Ich gehe der Frage nach: Warum müssen wir sprechen - auch wenn es scheinbar nichts ändert?
Wir schauen auf den Glaubenssatz „Ich kann ja eh nichts ändern“, wir zerlegen ihn - und erinnern uns daran, warum
jede einzelne Stimme zählt.
Warum „Ich kann eh nichts ändern“ so schädlich ist
Wenn wir uns diesem Glaubenssatz hingeben, kapitulieren wir eigentlich schon, bevor wir überhaupt etwas versucht haben.
Und: Wir rutschen damit in eine Opferrolle - klein, schwach, scheinbar der Willkür derer ausgeliefert, die (vermeintlich) über uns gebieten.
Erinnert sehr an ein Kind, das von den Eltern abhängig ist, oder? Frag Dich mal: Fallen wir mit solchen Sätzen nicht wieder in unsere kindliche Hilflosigkeit zurück - statt in unserer Kraft zu bleiben?
Damit schadet diese Denkweise sowohl uns (wir „disempowern“ uns - das Gegenteil von Empowerment) und auch der Gesellschaft.
Schweigen hat schon immer Strukturen der Unterdrückung gestützt. Fehlende Stimmen im Diskurs führen zu einseitiger Betrachtung - bereits in kleineren Räumen, in denen diskutiert wird. Wer schweigt, trägt mit, was gerade geschieht.
Es ist Zustimmung durch Abwesenheit.
Mit dem Effekt, dass das Feld an wichtigen Stellen leer bleibt – und die Lautesten oder diejenigen, die Missstände erhalten oder herbeiführen wollen, freies Spiel haben.
Was wäre, wenn Du wirklich gebraucht wirst?
Was wäre, wenn genau Deine Stimme einen Unterschied macht?
Was, wenn es gar nicht darum geht, die ganze Welt zu bewegen?
Was, wenn es reicht, wenn ein einziger Mensch sich gesehen fühlt, weil du sprichst?
Was, wenn Dein Satz, Dein Post, Dein Kommentar der Impuls ist, den jemand gebraucht hat, um nicht aufzugeben oder um voranzugehen?
Was, wenn Dein leises Flüstern in den Chor fällt - und plötzlich Teil einer Melodie wird, die lauter ist, als Du je geahnt hast?
Bewegung braucht nicht viele
Große Veränderungen beginnen selten mit „allen“. Sie wachsen von unten - aus wenigen, die anfangen.
Studien zu gewaltfreiem zivilen Widerstand zeigen: Schon ca. 3,5 % einer Bevölkerung, die aktiv und ausdauernd beteiligt sind, können Systeme kippen. Nicht die Lautesten entscheiden, sondern die Beharrlichen, Vernetzten, Klaren.
Wenn Du sprichst, bist Du Teil dieser kritischen Masse.
Egal wie sichtbar Du bist – Du wirkst.
Die Wahrheit: Jede Stimme ist wichtig
Jedes Licht zählt, jede Stimme zählt.
Stimmen wirken - und der Einsatz Deiner Stimme wirkt auf ganz unterschiedlichen Ebenen.
Individuell - Stimme heilt Dich
Deine Stimme heilt Dich. Weil Du Dich nicht länger klein machst. Weil Du Dich befreist. Ich weiß das aus eigener Erfahrung: Wenn Du Dich mit Deiner Stimme in den Raum hinaus begibst und Deinen Spielraum immer weiter erweiterst, befreist Du Dich ultimativ.
Kollektiv - Chor der Veränderung
Deine Stimme ist wichtig, weil wir nur zusammen etwas erreichen. Weil wir uns gegenseitig bestärken müssen. Weil wir uns zusammentun müssen, um wirklich etwas zu bewegen.
Zeugenschaft - "Ich sehe das"
Und wir dürfen eines nicht außer Acht lassen: Gerade wenn wir denken „Ich kann eh nichts ändern“ - oft geht es bei schwierigen Themen um bearing witness, auf Deutsch: Zeugnis ablegen. Jemand muss sagen: „Ich sehe das. Ich habe es gesehen. Ich schaue hin.“
Das ist gerade jetzt - angesichts von Gaza - so wichtig. Viele von uns fühlen sich hilflos. Also schauen wir hin, sprechen, wieder und wieder: „Ich sehe das. Wir sehen das. Wir sehen es jetzt.“ Es wird nie wieder ungesehen gemacht werden können.
Das ist vor allem wichtig für die, die Unrecht erfahren - für die Opfer, die keine Stimme haben, deren Stimme unterdrückt wird oder nicht ernst genommen wird. Und ja, leider ist es oft so, dass erst dann wirklich hingehört wird, wenn „westliche“ Menschen für andere sprechen. Es sollte nicht so sein - aber es ist so. Umso wichtiger, dass wir es tun.
Du wirst zu der Person, die Du gebraucht hättest
Wenn Du Dir jemals gewünscht hast, dass jemand für Dich eintritt, Partei ergreift, Dir seine Stimme leiht - dann gib Du sie anderen. So wirst Du zu dem Menschen, den Du selbst gebraucht hättest. Und damit schließt sich der Kreis: Du heilst Dich.
Gefühl als Treibstoff - nicht als Bremse
Nutze jedes Gefühl, das dabei hochkommt - auch die schwierigen. Wut. Trauer. Kanalisiere sie. Lass diese Energie in das fließen, was Du sagst. Das hilft Dir, mit den Gefühlen umzugehen.
Ich habe gestern ein Reel gesehen; sie sagte: „Es ist anstrengend, sich damit zu beschäftigen - aber ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt.“
Sprechen verändert vielleicht nicht alles - aber es verändert immer etwas.
In Dir. In Jemandem. Im Feld.
Wofür willst Du sprechen?
Ich glaube, wir alle tragen etwas im Herzen, für das wir stehen.
Frag Dich: Wofür will ich meine Stimme erheben?
Ist es das Leid von Kindern?
Die Gewalt an Frauen?
Die Zerstörung unserer Erde?
Was trifft Dich gerade mitten ins Herz -
Gaza, Sudan, Kongo, Frauen in Afghanistan, rechtsextreme Hetze?
Deine Stimme wird dort gebraucht, wo Dein Herz längst brennt.
Der erste kleine Schritt
Wenn die eigene Stimme zu leuchten beginnt.
Schreibe zuerst für Dich - ins Tagebuch, auf ein loses Blatt, ohne Publikum.
Dann wage den nächsten Schritt: ein Satz in den sozialen Medien, ein Kommentar, ein kurzer Post.
Du musst nicht gleich die Welt ansprechen.
Es reicht, wenn Du Deine eigene Stille unterbrichst.
Suche Dir Gleichgesinnte. Begib Dich in Gruppen. Trage bei.
Gewinne mehr und mehr Mut und erweitere Deinen Spielraum.
Jeder kleine Schritt wirkt. Lass Dir Zeit. Hier geht es um Stetigkeit, nicht um Tempo.
Mikro wirkt Makro - wie Wirkung sich entfaltet
Wirkung entsteht oft unsichtbar, wie Wellen ausgehend von einem Punkt. Du wirst es vielleicht nie sehen oder wissen - vertraue darauf, dass alles was Du aus Deinem Herzen herausgibst - in Wahrhaftigkeit - irgendwo auf einen Resonanzkörper trifft.
- Resonanz: Eine Stimme entzündet eine weitere - nicht planbar, aber real.
- Netzwerk: Dein Satz erreicht eine Person, die zehn erreicht …
- Zeitversatz: Wirkung hat Latenz. Viele Samen keimen still.
- Räume halten: Wer würdevoll spricht, macht Dialog möglich - das ist bereits Veränderung.
Nicht jedes Wort ist ein Hebel. Aber jedes Wort ist ein Same.
Exkurs: Das gebrochene Herz
Manchmal fühlt es sich hoffnungslos an.
Wir sprechen, unterschreiben, spenden - und nichts scheint sich zu bewegen.
Wie Gabor Maté sinngemäß sagt: Das gebrochene Herz kann ein Beitrag zum Licht sein.
Schmerz ist kein Beweis der Nutzlosigkeit - er ist Beweis Deiner Menschlichkeit.
Sprich trotzdem. Gerade deshalb.
Abschluss - Du bist Teil eines Chors
Wenn Stimmen sich zum Chor verbinden und gemeinsam leuchten.
Aus meiner Sicht stehen wir gerade am Anfang einer großen Generalprobe für zivilen Ungehorsam und Bewegungen auf dieser Erde, die wahrhaftig von vielen Menschen getragen werden.
Früher oder später werden wir uns alle entscheiden müssen, ob wir den Ring nach Mordor tragen.
Was für mich dieser Ring ist? Unbeirrtes Einstehen für Menschlichkeit. Haltung gegen alles, was uns spalten will.
Wir treten in ein neues Zeitalter der Verbindung. Lass uns eine Stimme im Chor derer sein, die für Menschlichkeit stehen.
Wenn Du sprichst, bist Du Teil dieses Chors. Wenn Du schweigst, fehlt eine Stimme, die ihren ganz eigenen Ton hätte einbringen können.
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Lichtermeer (Titelbild): Foto von Kateryna Ivasiva auf Unsplash
Kerzen auf Kerzenständern: Foto von Reno Laithienne auf Unsplash
Hand mit Lichterkette: Foto von Marcus Wallis auf Unsplash
Lichterbaum: Foto von Jari Hytönen auf Unsplash
Liebe Jana, ich sehe das ganz genauso und ich freue mich über jede Stimme, die beharrlich weiter zu hören oder lesen ist! Danke!
Liebe Grüße
Angela
Hi Jana,
deine Worte haben mir sehr gut getan und mich bestärkt.
LG
Sabiene